Beate Hürbe-McCoy, 1975-83
Wenn ich an Hans Graf denke, dann erinnere ich mich nicht nur an einen Pianisten, dem das Klavierspielen mühelos und – sprichwörtlich – leicht von der Hand ging, ich denke an einen Menschen der hochsensibel für Musik war, in großem Ausmaß musikalische Intelligenz besaß. Er hat dafür ein eigenes Wort geprägt: „musikantisch“. Und das wollte er aus uns machen: keine Hochleistungssportler, sondern Musikanten.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es keiner „Brüllkonzerte“ und keiner herabwürdigenden Worte. Sein Unterricht war Hilfestellung: „Probiere und versuche das mal so“ oder „Dabei kann dir sicher meine Frau oder mein Assistent helfen“. Nie hat er einen lächerlich gemacht. Wenn etwas wirklich grundfalsch war, verzog er abwägend den Mund und drehte den Kopf in die eine und die andere Richtung um dann leise, langsam, gleichsam überlegend zu sagen: „Das würde ich so nicht machen!“
Nur wenn der Rhythmus nicht stimmte, wenn wir eine Pause „verschluckten“, wurde es ernst. Da verstand der Herr Professor keinen Spaß: Denn der Rhythmus war heilig, ist er doch die Essenz eines Stückes, sein Gerüst, ohne das es nicht existieren kann! Ihn zu beleidigen eine schwere Sünde! Da bildete Herr Professor aus Zeige-, Mittelfinger und Daumen einen Revolver und erschoss uns kurzerhand! Ja, Herr Professor war ein feiner Mann!
Die japanische Sprache kommt ohne den Konsonanten L aus, und das R wird weit hinten im Kehlkopf gebildet und klingt wie eine Mischung aus R und L. Als ich einmal zur Stunde kam, war Herr Professor sehr ernst, fast verpeinlicht, wortkarg. Eine Japanerin stellte sich ihm vor, und es war nicht die sonst so angenehme gelöste Stimmung im Raum. Herr Professor wirkte angespannt. Für mich irgendwie irritierend. Die junge Frau verabschiedete sich, verließ den Raum und Herr Professor fing an schallend zu lachen. Tränen standen in seinen Augen. Und dann seine Erklärung: Die japanischen Studentin spielte – wirklich gekonnt – die „Rigoletto-Paraphrasen von Franz Liszt“ vor. Da ihr Deutsch aber mit ihren pianistischen Fähigkeiten nicht Schritt halten konnte, kündigte sie „Ligoretto Palaphlasen von Flanz Riszt“ an. Herr Professor fand es so komisch, dass die Studentin es wirklich schaffte, jedes R und L in dem von R und Ls nur so strotzenden Satz falsch zu sagen, dass er gerne sofort gelacht hätte. Aber er hätte nie jemanden durch sein Lachen bloßstellen wollen!
Das Wunder von Cordoba 1978 – Länderspiel Deutschland gegen Österreich
Hans Graf war einige Jahre Abteilungsleiter der Abteilung 2 – Tasteninstrumente und nahm diese Aufgabe genauso gewissenhaft wahr wie seinen Unterricht: Das bedeutete, dass öfters während des Unterrichts die Türe aufging und seine Sekretärin oder ein Schulwart hereinkam, um ihm Unterlagen zu übermitteln oder eine Unterschrift einzufordern. Das ging sehr ruhig von sich, die Störung des Unterrichtes war marginal, es wurden kaum Worte gewechselt, ein Blick genügte meist, man verstand sich.
Unterricht, Abteilungsleiter und dazu noch die Verpflichtungen seiner Familie gegenüber legen die Vermutung nahe, dass Herr Professor keine Zeit mehr fand, regelmäßig und intensiv Sport zu betreiben. Mir ist in dieser Richtung nichts bekannt. Ich mag mich da auch irren. Aber: Was ich sicher weiß, er war ein leidenschaftlicher Beobachter vor allem der Sportarten Schirennlauf und Fußball! Was für ein Opfer, wenn er wegen einer Stunde ein Rennen oder ein Spiel live im Fernsehen verpasste! Meist ging er dann zwischen den Stunden zum Schulwart, der im Stockwerk in einer kleinen Koje residierte und ließ sich über den Stand des Ereignisses Bericht erstatten, denn der Schulwart war angehalten, über das Radio Spiel oder Lauf zu verfolgen.
Während einer solchen Stunde kam der Schulwart – man öffnete die Türe nur, wenn das Klavier schwieg – überreichte Herrn Professor einen schön gefalteten Zettel, man nickte sich dankend zu und der Schulwart ging. Herr Professor öffnete sogleich neugierig den Brief, denn er erwartete nichts, und hier stand:1:0 für Deutschland in der 19. Minute durch Rummenigge. Herr Professor war sehr gerührt über diese Aufmerksamkeit, denn er hatte den Schulwart nicht gebeten, ihn zu informieren. Das Spielende habe ich nicht erlebt. Die Stunde war davor zu Ende und ich ging zum Schwedenplatz, ein Eis essen.
Ob der Herr Professor auch den legendären Spruch „I werd narrisch!“ per Eilpost erhalten hat?