Christoph Berner, 1988-93

Das Erste, was mir einfällt, wenn ich heute an Hans Graf denke – unfassbare 30 Jahre nach seinem viel zu frühen Tod – ist sein Blick: dieser offene, zugewandte, liebenswürdige, lächelnde, gütige, entwaffnende Blick, mit dem er einen begrüßte...

Lange, bevor ich wusste, um wen es sich da handelte, lernte ich diesen Blick kennen; wenn an einem Freitag Nachmittag in meiner Unterrichtsstunde bei Imola Fonyad-Joo die Tür einen Spalt weit aufging und sein Gesicht hereinlächelte, konnte ich fast immer mit einer längeren Übepause rechnen.

Drei Jahre später (1988) war ich dann das erste Mal in den heiligen Hallen des Zimmers 212 auf der Lothringerstraße, in dem immer dieser Geruch hing – eine Mischung aus Rasierwasser und Rauch – den ich heute noch in der Nase habe, wenn ich nur daran denke. Bald konnte ich die Bewunderung und Verehrung, die ihm entgegengebracht wurde, aus eigenem Erleben nachvollziehen; sehr schnell wurde er mir ein musikalischer Vater – und ich beeilte mich, ihm in Allem nachzustreben, weshalb ich mit meinen 17 Jahren gleich mal zu rauchen begann. Dabei erinnere ich mich, wie irritiert ich anfangs war, dass wir den ersten Satz der „Appassionata“ nicht Takt für Takt auseinandernahmen: lediglich drei Stellen griff er heraus und ich ging einigermaßen ratlos nach Hause.

Viel später erst verstand ich, dass er die Gabe besaß, nur da musikalisch einzugreifen, wo ich ernsthaft vom Weg abzukommen drohte und den Student*innen ansonsten weitgehend freie Hand ließ. Daher hatte man bei seinen Klassenabenden auch niemals den Eindruck, alle spielten „gleich“.

Worauf kam es ihm am meisten an? Er hatte ein untrügliches Gefühl für das richtige Tempo, forderte rhythmische (Pausen!), artikulatorische und dynamische Genauigkeit ein, hatte immer wundervolle Sprachbilder zur Hand („Kriech wie ein Schneck’ in sein Haus“ steht in meinen „Kreisleriana“-Noten an einer Stelle im 5. Stück). Seine Pedalzeichen zielten auf Klarheit und Poesie ab, wie ich sie auch in seinen Aufnahmen wiederhöre. Er hatte bei Alfred Uhl ein paar Semester Komposition studiert (so erinnere ich mich); vielleicht rührte daher sein besonders feines Gefühl für die Architektur und Struktur eines Werks und seine Begeisterung für harmonische Finessen (die er nicht müde wurde mit uns zu teilen und nicht nur in der sogenannten klassischen Musik, sondern auch in den Bossanova-Liedern von Antonio Carlos Jobim, die er liebte). Dabei war er ein durch und durch intuitiver Musiker mit ausgeprägtem Klangsinn, der das Klavier zum Singen brachte.

In den Klassenstunden am Samstag Vormittag, die fast immer gemeinsam mit Carmens Klasse und ihren Student*innen abgehalten wurden, lernte ich nicht nur, mich mit gerade auswendig gelernten Stücken den Mitstudent*innen zu präsentieren, sondern auch viel Repertoire kennen – und den Anderen so zuzuhören, dass man – falls man dazu aufgefordert wurde – etwas einigermaßen Vernünftiges dazu sagen konnte. Hier herrschte immer eine Atmosphäre der kollegialen, freundschaftlichen Verbundenheit, die für mich beispielhaft geblieben ist (gerade weil ich später auch ganz andere Klassen erlebt habe).

Hans Grafs Urteile über Interpretationen waren oft – seinem humorvollen Naturell entsprechend – pointiert zugespitzt. So erinnere ich mich, dass er von einem Pianisten, den er mit einem Schubertabend gehört hatte, meinte: „Wenn es Rachmaninow gewesen wäre, hätte man gesagt, er soll nicht so übertreiben ...!“ – Ein anderes Mal war ich dabei, als ihm jemand alle 24 Chopin-Etüden vorspielte. Sein Kommentar (nachdem der junge Pianist gegangen war): „Wenn ich so gut Klavier spielen könnte, würde ich besser Klavier spielen.“

Unvergessen auch die Situation, als wir vor der Probe einer vierhändige Mozart-Sonate in der Wohnung in der Gentzgasse erstmal eine Zigarette rauchten; als es dann losgehen sollte, bot mir Professor Graf eine weitere Zigarette an: so lernte ich – links und rechts der Noten je ein Aschenbecher – wie die Mozartschen Pausentakte optimal genützt werden können.

Wenn im Zuge der Vorbereitung zu einem Wettbewerb – oder weil Professor Graf auf Grund seiner häufigen Jurortätigkeiten länger außer Landes gewesen war –eine zusätzliche Stunde eingeschoben wurde (auch dahingehend war er immer sehr großzügig) sollte ich mich meist am Vorabend telefonisch melden. Fast immer verlief das Gespräch dann nach dem gleichen Muster. Auf meine Frage, wann es denn recht sei am nächsten Tag, meinte er: „Komm doch um 4!“

Aus dem Hintergrund hörte man Carmens Stimme, dann wurde der Telefonhörer mehr oder weniger gut zugehalten; nach einiger Zeit dann die Frage: „Christoph, kannst Du um 11 kommen morgen?“...


Nach einer Kollektivstunde 1986.

Vlnr: Iku Miwa, Hans Graf, Giuseppe Mariotti,
Mariangeles Iglesias, Sachio Nagamatsuya
(Schülerin von Prof. Carmen Graf)

Ich erinnere mich aber auch, wie bestürzt wir waren, als Iku, Sibylla, Maria-Clara und ich ihn am Tag seines 65. Geburtstags mit einer Wiedergabe der „Brasiliera“ aus „Scaramouche“ überraschten und er danach im Cafe Schwarzenberg in Tränen ausbrach und längere Zeit nicht zu trösten war. Ob er seinen Gesundheitszustand ahnte?

Daran, wie viele Situationen mir heute, 30 Jahre später, immer noch glasklar in Erinnerung sind, kann ich ersehen, wie intensiv, erfüllend und prägend diese Zeit für mich war. In den fünf Jahren, die ich bei Hans Graf studieren durfte, lernte ich selbständiges musikalisches Denken und wie man sich große Werke erarbeitet. Mindestens so beeindruckt hat mich daneben der weltgewandte Wiener Gentleman mit seiner nicht versiegenden Freundlichkeit und verbindlichen Liebenswürdigkeit, seinem Humor und seiner großen Menschlichkeit.

Hans Graf ist präsent in meinem Leben, im Umgang mit Anderen, in der Art Gespräche zu führen und zuzuhören, wenn ich unterrichte, wenn ich ein neues Werk zu üben beginne – er hat mich als Mensch und Musiker nachhaltig geprägt. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.

Bei unserem letzten Telefonat – etwa zehn Tage vor seinem Tod – gab er mir einen Satz mit, der mich durch viele schwierige und dunkle Momente getragen hat, der mir bis heute Kraft gibt: „Hab Mut zum Üben!“